„ich spreche mit Leuten“
Wer kann schon von sich behaupten, „ich habe auf den Wal gewartet“? Der dann naturgemäß nicht kommt, und es ist in diesem Gedicht des lettischen Dichters Krišjānis Zeļģis, dessen Band Wilde Tiere nun bei der Kölner parasitenpresse erschienen ist, nicht klar, ob sich da Profifischer oder Schaulustige „unter dicken Segeltuchjacken“ am Strand treffen. Etwas Bedrohliches liegt über der Szenerie, das lyrische Ich hat seinen „Dolch geschärft“, empfindet „das Blick- wie ein Schlachtfeld“, und „das graue dreckige Meer wogt“ dazu. Besser für den Wal, sich nicht zu zeigen, denn er würde vom gewaltbereiten Willen dieses Melders wohl hinweggefegt werden.
„Wilde Tiere“, so heißt nicht nur der Gedichtband, den der Kölner Autor und Verleger Adrian Kasnitz mithilfe einer englischen Interlinearversion sehr einfühlsam ins Deutsche übertragen hat, sondern auch der erste der fünf enthaltenen Gedichtzyklen. Man weiß nicht immer genau, auf welcher Seite das offenbar zu allem bereite Ich dieser Texte steht, oben hoch auf einem „Hochsitz im Wald / wo du alle leichtgläubigen Tiere abknallen kannst“, die ihm gleichwohl „komm runter“ zubrüllen. Doch trotz aller Angst begreift dieses Ich, „dass dies eine Schönheit / die nicht leicht zu erlangen ist“. Zu einem wilden Tier kann auch eine hungrige Rohrdommel werden, „ein gieriger kleiner Bauch“, der den sie fütternden Naturschützer „unter Feldforschungsbedingungen“ anpfeift. Und was ist das für eine zynische Gesellschaft, die das versehentlich von ihr angefahrene Rotwild verspeist:
wenn ich ein Reh wäre würde ich mich über
diese überraschend praktische Annäherung an den Tod freuen
Die Wildheit der Gedichte des 1985 geborenen Krišjānis Zeļģis, der nach allerhand Berufs- und Auslandserfahrungen inzwischen als Bierbrauer in Riga lebt, ist vielleicht ihrem scharfen, unparteiischen Blick geschuldet. Menschen haben Probleme, werden aus ihren Wohnungen geworfen, der Strom ist abgestellt, und das Eisfach taut auf: „mir ist kalt / kauf Suppe / Schatz“. Menschen schnorren sich durch WGs, stehlen Essen, klauen Geld, „und die Fischschuppen in meinem Portemonnaie stehen für Wohlstand“. In einem Text verfolgt das lyrische Ich in einem Zug die Diebin seiner Schuhe und schlägt sie: „das Blut tropft aus ihrer Nase auf ihren Rock / Entschuldigung sage ich“, nur um anschließend festzustellen, dass ihm inzwischen sämtliche Fischkonserven geklaut worden sind: „niemand hat was gesehen / niemand / hat was gesehen“.
Man hört diese Worte förmlich ausgesprochen, lakonisch, doch mit unterdrückter Wut, sie zwingen die Leser zu einer Positionierung. Zeļģis setzt Wiederholungen geschickt ein, ihre Rhetorik, der ständige Dialog, ist eine Stärke der Gedichte:
mir ist Freizeit wichtig und Nichtstun
Freizeit und Nichtstun sind mir wichtig
Wer könnte sich diesem bereits im ersten Text des Bandes formulierten Kredo entziehen? Dem stehen die Rollengedichte im Kapitel „Fachmänner“ gegenüber, wo zum Beispiel ein Grubenarbeiter über „diese brutale Schönheit“ untertage spricht, die er seinen Kindern gerne vermitteln würde. Oder da ist diese Köchin, die, müde von ihrem zuvor im Selbstgespräch protokollierten, durchaus appetitanregenden Tagwerk, zum Ehemann, der sie abholt, in aller brutalen Schlichtheit sagt: „ich habe dir nichts zu erzählen“. „Traurigkeit steht dir viel besser“, konstatiert das lyrische Ich im Gedichtzyklus „gegen mich“ angesichts der „über das blöde Internet“ vermittelten „braunen kummervollen Augen“ einer geliebten Person, deren Lebenssituation im sicherlich am eigenen Leibe erfahrenen postsowjetischen Alltag mit den Worten zusammengefasst wird:
der Rest der Leute
die du liebst
die du vermisst
leben jetzt im Ausland
oder sind tot
oder haben dich betrogen
Wer die lakonischen, von einer spannungsreichen Menschlichkeit durchzogenen Texte von Adrian Kasnitz kennt, der seine ersten Lebensjahre an der Ostsee nicht weit von Zeļģis’ Heimat verbracht hat, erkennt bald, daß Autor und Nachdichter im Band Wilde Tiere schier idealtypisch zusammengefunden haben:
zwischen Zimt und Kaffee stehst du
mit den Lippen der Kindheit
so schön wie ich es erinnere
beginnt das erste Gedicht des Kapitels „du riechst nach Kiefern“. Die spröde lyrische Schönheit einer solchen Erinnerung könnte auch von Kasnitz stammen –
die Zeit ist so lang wie eine Telefonnummer
Die Vielfalt der Stimmen, die Krišjānis Zeļģis in seinen Gedichten sprechen lässt, ist beeindruckend. Da klagt im letzten Teil des Buches mit dem Titel „Geheimnisse“ ein alterndes Ich im Früher-war-alles-besser-Gestus, aber dennoch überaus realistisch, ja fast politisch: „wie Gemüse das weiter gereist ist als wir / verfaulen wir auf dem Lande“. Zwischen den Bäumen und Küsten, den Flüssen und Seen, inmitten all der wilden Menschlichkeit in Zeļģis’ Gedichten taucht sogar der riesige „Antwerpener Hafen“ – übrigens einer der wenigen Texte mit explizitem Titel – wie selbstverständlich auf. Das lyrische Ich bewegt sich darin auf einer „Navi-Karte“, wie „ein kleiner flinker Pfeil der vorwärts ruckt“ und der dabei zusieht, wie „die breiten Münder der Schiffe“ Fracht aufnehmen.
In Wilde Tiere wird mit einer klaren und trotz aller Rückschläge nicht bitteren Stimme gesprochen, wie man sie etwa auch von einem Petr Hruška kennt. Mit zurückhaltender Genauigkeit nimmt Zeļģis, wohltuend ungekünstelt und in vielerlei Färbungen, in erster Linie den Menschen selbst in den Blick:
ansonsten gibt’s nichts Neues
ich spreche mit Leuten und
morgens grabe ich kleine Tierknochen aus
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